Eschborn – das Mekka des Gehersports

30 Jahre Sportgeschichte digital aufgearbeitet

Eschborn bewegt die Menschen, und die Menschen bewegen sich. In vielen Sportvereinen und bei unzähligen Freizeitaktivitäten. Seit dem Jahr 2014 wird dieses Bewegen einmal im Jahr öffentlich sichtbar bei dem Laufevent Eschathlon, bei dem mehr als 1500 Läuferinnen und Läufer aus allen Generationen auf den Straßen der Stadt unterwegs sind. Doch Eschborn kann auf eine große Leichtathletik-Epoche zurückblicken, die den damals kleinen Ort im Osten des Main-Taunus-Kreises von 1963 bis 1993 weltweit bekannte machte und das Prädikat „Mekka des Geher-Sports“ erhielt.

Vor 30 Jahren endete diese Ära. Aber sie soll nicht in Vergessenheit geraten. Pünktlich zu dem diesjährigen 10. Eschborner Halbmarathon konnte jetzt der Mitorganisator Jürgen Wrona mit seinem Rechercheteam eine umfassende digitale Aufarbeitung der 30-jährigen Geher-Sportgeschichte in Eschborn veröffentlichen.

Ein einziger Satz machte aus dem Lauforganisator und früheren Handballer und Leichtathleten Wrona einen Detektiv. Als er vor über drei Jahren an der Laufstrecke des Eschathlon stand, rief ihm ein Zuschauer zu, dass man das „früher schon mal hatte und sogar besser“. Dieser Satz ließ den Machertyp nicht los. Der Impuls war gesetzt.

Jürgen Wrona hat dann mit Brigitte Kuchinke, Monika Rendel, Horst Knoke und Walter Mirwald Zeitzeugen gefunden. Unzählige Monate, Wochen, Tage und Stunden wurde recherchiert. Das Ergebnis: Die goldenen Jahre des Geher-Sports in Eschborn sind in einer eindrucksvollen Dokumentation mit Texten, Fotos, Filmen und mit Interwies von Zeitzeugen zum Leben erweckt worden. Jetzt wird das Ergebnis der zweieinhalbjährigen Recherche präsentiert.

Die Älteren werden sich erinnern, denn sie waren dabei, und die Jüngeren werden staunen. Denn in Eschborn wurden in der Zeit von 1963 bis 1993 14 deutsche und internationale Meisterschaften ausgerichtet. Bei den Team-Weltmeisterschaften, Lugano-Cup genannt, war 1970 und 1979 die Geher-Weltelite am Start mit Athleten aus bis zu 18 Nationen, darunter Olympiasieger und Weltmeister. 24000 Menschen boten zuweilen eine imposante Zuschauerkulisse. Eschborn war damals als das „Geher-Dorf“ weltweit bekannt.

Die Leichtathletik-Sportart Gehen führte in Deutschland seit vielen Jahren ein Schattendasein. Doch dann gewann Jonathan Hilbert von der LG Ohra bei den Olympischen Spielen in Tokio 2020 sensationell die Silbermedaille über 50 Kilometer. Im Sommer 2022 gab es erneut Grund zum Jubeln, als der Potsdamer Christopher Linke bei den Europameisterschaften in München über 35 Kilometer ebenfalls zur Silbermedaille stürmte und die für den SC DHfK Leipzig startende Saskia Feige Bronze im 20 Kilometer Gehen der Frauen gewann. So konnte auch das Gehen wieder einmal im Rampenlicht stehen und knüpfte an das an, was zuvor über drei Jahrzehnte in Eschborn zelebriert wurde, unterstützt vom Medien-Echo, nachdem Bernd Kannenberg bei den Olympischen Spielen in München 1972 überraschend die Goldmedaille über 50 Kilometer gewonnen hatte.

In München war der Eschborner Dieter Pawlak Leiter der olympischen Straßenwettbewerbe. Damit wurde dem Mann Respekt gezollt und Verantwortung übertragen, der Jahre zuvor die Geher-Lawine in seiner Heimatstadt Eschborn ins Rollen gebracht hat. Denn ohne Dieter Pawlak wäre Eschborn niemals zum „Mekka des Geher-Sports“ geworden.

Der 1934 geborene und 1999 verstorbene Dieter Pawlak war ein organisatorischer Tausendsassa, ein Hans Dampf in allen Gassen. Der Steuerberater Pawlak mit seinem riesigen Netzwerk war FDP-Stadtverordneter und konnte deshalb auch die Minister Wolfgang Mischnick und Hans-Dietrich Genscher für das Gehen begeistern und als Schirmherren nach Eschborn holen. Er wirkte als Vorsitzender des Turnvereins Eschborn und des Sportkreises Main-Taunus, war einige Zeit Schatzmeister des Hessischen und Deutschen Leichtathletik-Verbandes – und natürlich Geher.

1954 brachte er es immerhin zur westfälischen Vizemeisterschaft in seiner Lieblingssportart. Und in Eschborn merkte er, dass dort mit dem Gehen etwas geht.

1963, in dem Jahr als das Zweite Deutsche Fernsehen erstmals aus einer Baracken ähnlichen behelfsmäßigen in Eschborn gelegenen Sendeanstalt sein Programm ausstrahlte, wurde mit der deutschen Meisterschaft im 50 Kilometer Gehen, die der Berliner Gert Jannsen gewann, der Grundstein für die 30 Jahre dauernde Eschborner Geher-Ära gelegt. Die Organisatoren hatten zunächst eine Rundstrecke von 5 Kilometern im alten Ortskern von Eschborn festgelegt und später auf 2,5 Kilometer optimiert, so dass viele erstaunte Zuschauer mit dieser leichtathletischen Disziplin erstmals konfrontiert wurden.

„Geher-König Nermerich regiert souverän“ titelte das Höchster Kreisblatt am 21. Juli 1969. Der für die Frankfurter Eintracht startende in Kelkheim-Münster wohnende Sympathieträger Bernhard Nermerich, hatte bei den zweiten vom TV Eschborn ausrichteten Deutschen Geher-Meisterschaften über 50 Kilometer den Start verpasst, war 80 Meter nach dem Feld auf den Parcours gegangen, konnte dann aber nach 4:07:28 Stunden souverän gewinnen. Sportjournalist Wilhelm Grün von der Frankfurter Rundschau würdigte den 2010 verstorbenen späteren 20-fachen deutschen Meister so: „Wenn er die Straßen hinauf geschwebt kam, hatte man den Eindruck, ein Formel 1-Wagen hätte sich in die Klasse für Wipproller verirrt.“

Zum großen Stelldichein der Weltelite kam es nach der „Generalprobe“ der Deutschen Meisterschaften im Juli am 10. und 11. Oktober 1970 beim Lugano-Cup, der inoffiziellen Mannschaftsweltmeisterschaft der Geher, bei dem die Ergebnisse über 20 Kilometer vom ersten Tag und über 50 Kilometer vom zweiten Tag gemeinsam gewertet wurden. Zu einer Zeit, als die Wiedervereinigung Deutschlands noch in weiter Ferne lag und der Auftritt von DDR-Athleten in der Bundesrepublik ein Politikum darstellte, siegte die DDR unter acht Nationalmannschaften vor der UDSSR und dem Team des Deutschen Leichtathletik-Verbandes. Dabei stellte Olympiasieger Christoph Höhne (DDR) mit 4:04:36 Stunden über 50 Kilometer eine neue Weltjahresbestleistung auf.

Mit dieser von einem begleiteten Rahmenprogramm mit einem bunten Abend und einer Fahrt nach Rüdesheim großartig organisierten internationalen Veranstaltung hat sich Eschborn auf der Weltkarte des Geher-Sports fest verankert. Die Geher-Wettbewerbe wurden zum Volksfest. Eschborner boten Privatquartiere an. Hotels waren in Frankfurt und bis in den Taunus ausgebucht.

1972 gewann der spätere Olympiasieger Bernd Kannenberg vom LAC Quelle Fürth am 17. Juni auf den Eschborner Straßen bei der Generalprobe für die Spiele in München die deutsche Meisterschaft über 50 Kilometer-Gehen vor Horst-Rüdiger Magnor von der Frankfurter Eintracht und Gerhard Weidner von der LG Salzgitter.

Am 15. und 16. September 1973 wagten Dieter Pawlak und seine Helfercrew das Double. In Eschborn wurde Bernd Kannenberg erneut deutscher Meister im 50 Kilometer-Gehen, und der Darmstädter Lutz Philipp gewann die Deutsche Meisterschaft im Marathonlauf vor Wolf-Dieter Poschmann (LG Rhein-Berg), dem am 21. August 2021 verstorbenen späteren Sportchef des ZDF.

1976, in dem Jahr als Dieter Pawlak zum Vorsitzenden des TV Eschborn gewählt wurde, sagte Palle Larsen, der Präsident der internationalen Geher-Kommission aus Kopenhagen, nach dem von Frankreich gewonnenen Länderkampf der Nachwuchsgeher gegen Deutschland auf Eschborner Pflaster: „Dies ist eine Stadt für den Geher-Sport, hier fühlt man sich immer wieder Zuhause.“

Zuhause in Eschborn fühlten sich auch wieder Sportlerinnen und Sportler aus vielen Nationen beim zweiten Lugano-Cup-Finale auf Eschborner Boden am 29. und 30. September 1979. Es siegte Mexiko vor der UDSSR und der DDR. Dabei stellte der überragende Mexikaner Daniel Bautista vor 24000 begeisterten Zuschauern eine Weltbestzeit über 20 Kilometer mit 1:18:49 Stunden auf.

Erstmals wurde auch der Eschborn-Cup für die Frauen über 5000 Meter vergeben. Das Höchster Kreisblatt schrieb „So spannend war es in Eschborn noch nie“.

Anfang Juni 1984 waren neun Nationen beim dritten Eschborner Geher-Tag unter anderem mit dem Länderkampf zwischen Deutschland, Polen, Schweiz und Dänemark auf dem 1133 Meter langen Rundkurs rund um die Heinrich-Graf-Sportanlage in Eschborn zu Gast. Dabei ging es auch um die Olympiaqualifikation für Los Angeles.

Beim 4. Internationalen Geher-Tag im Juni 1985 freute sich Dieter Pawlak über „das schnellste 20 Kilometer-Gehen auf deutschem Boden“, bei dem das bundesdeutsche Team die Schweiz im Länderkampf mit 16:6 besiegte.

Am 24. April 1988 gewann der Fürther Alfons Schwarz in Bestzeit von 3:56:14 Stunden in Eschborn die deutsche Meisterschaft über 50 Kilometer. Dabei ging es um die Qualifikation für die Olympischen Spiele in Seoul. Alfons Schwarz schwärmte beim Zeitzeugen-Interview ebenso wie der „Stammgast“ Hans Michalski (Eintracht Frankfurt) in höchsten Tönen von den Geher-Veranstaltungen, die sie in Eschborn erlebten.

Das letzte Kapitel Gehen wurde in Eschborn im Juni 1993 geschrieben. 8000 Zuschauer feuerten mehr als 300 Geher aus elf Nationen beim Elf-Länderkampf an. Es gab Bestzeiten am Fließband mit der Bilanz des Höchster Kreisblatts „Eschborns Straßen – ein gutes Pflaster für die Elite der Geher“.

Die Kreisblatt-Redakteurin Kerstin Schellhaas beleuchtete in einer Kolumne einen weiteren bedeutenden Aspekt: „Es war ein Fest für alle. In Zeiten, wo Ausländer in Deutschland um ihr Leben fürchten müssen, zeigten die Eschborner, dass es auch anders geht. Fairness und Freundlichkeit statt Feindseligkeit und Fremdenhass.“

Ein letztes Kompliment an Eschborn und die Geher-Organisation. Ein letztes Kompliment an Dieter Pawlak. Er verlegte seinen Lebensmittelpunkt, seinen Wohn- und Berufsort, nach Südhessen. Das war das Ende der Eschborner Geher-Ära. Aber eines ist sicher. Dass, was er in drei Jahrzehnen mit seiner großen Helferschar für Eschborn geleistet hat, bleibt unvergessen.

Anmerkung: Die Berichterstattung über die 30-Jahre der Eschborner-Sportgeschichte (1963-1993) fokussiert sich vordergründig auf die 50km-Distanz der Männer, dies war damals die „längste Disziplin der olympischen Leichtathletik“.

Die Eschborner Sportgeschichte von 1963 bis 1993 steht jetzt digital der Öffentlichkeit zur Verfügung unter www.eschathlon.de/30Ygeher.